Donnerstag, 13. Dezember 2012

Die Bedingungen der Utopie

"Wenn du kein Utopist bist, dann bist du im Grunde genommen ein Schwachkopf" Jonathan Feldman
Die Schwierigkeit eine Utopie zu entwickeln ist es, aus den engen Vorstellungsräumen auszubrechen die uns unsere Erfahrungen aufgezwungen haben. Wir, die wir nichts anderes kennen, können uns nicht Vorstellen, dass die Nation und der Staat, wie wir sie heute vorfinden, eine sehr junge Geschichte haben. Wie wäre es in einer Welt zu leben ohne Pässe und Staatszugehörigkeit?

Fragen wir einen Gefangenen der sein Leben lang in einer Zelle mit einem Dutzend Bücher verbracht hat, was wer sich sehnlich wünscht, würde er vielleicht sagen „mehr Bücher“. Die Vorstellung einer Welt außerhalb seiner Zelle fällt ihm schwer, es sei denn seine Bücher haben ihm die Augen Geöffnet. Dazu darf der Autor aber nicht in der Nachbarzelle sitzen. Vielleicht aber steuern auch seine Kerkermeister was er zu lesen bekommt und stellen sicher, dass er weiterhin keine Vorstellung von der Außenwelt hat?

Ähnlich reagieren wir wenn wir konstruktive Kritik am vorherrschenden System üben sollen, zu mehr sozialer Gerechtigkeit fallen uns Reichensteuer oder Vermögensabgabe ein. An unseren Staatsgrenzen wacht währenddessen ein hochgerüsteter Militärapparat der die Ausgebeuteten der Nationen, die jenseits des Abgrundes zwischen arm und reich leben, davon abhält, endlich Teilhabe an den Reichtümern zu bekommen die von Süden nach Norden fließen.

Davon sollen oder wollen wir nichts wissen, dieser Kampf der Verzweifelten liegt jenseits unserer Wahrnehmung. Ein System weit brutaler als die institutionalisierte Apartheid Südafrikas sichert uns unseren Wohlstand und die Entrechtung und Ausbeutung des armen Südens. Dieses System ist der Nationalstaat und seine Grenzen.

In historischen Dimensionen bemessen ist die Erfindung der Nationalstaaten, von denen wir Glauben, dass sie unsere Gesellschaft sind, nur einen Wimpernschlag alt. Natürlich hatten wir schon seit Jahrhunderten eine Gesellschaft (oder viele) auch in Zeiten in denen dieser Begriff nichts mit einem Nationalstaat zu tun hatte. Wir die, wir die Kinder de Völkerwanderung sind sind fest Verwurzelt mit der Unverrückbarkeit nationaler Grenzen.

Wer von uns stellt sich unter einer Welt ohne Grenzen aber einen weltweiten Nationalstaat vor? An der Entrückung der EU Kommission von den Bürgern der EU kann man ermessen wie sich eine solche Weltregierung gegenüber den Bürgern dieser Erde verhalten würde.

Die Entwicklung des Staates als Personenverband seiner Bürger und festgelegten geographischen Grenzen, wie wir ihn heute kennen, fällt zusammen mit der ersten industriellen Revolution vor ca. 250 Jahren. Die ersten Verfassungen die auf diesem Prinzip beruhten waren die am 3. September 1791 in Frankreich geschriebene Revolutionsverfassung und die US Amerikanische Verfassung von 1787. Diese Verfassungen standen Pate für alle weiteren Klone der sog. parlamentarischen Demokratie und ihren Verwandten.

Wozu haben wir diesen Staat?
Brauchen wir in Zukunft noch einen Staat?
Warum werden wir regiert und von wem?
Wollen wir überhaupt regiert werden?
Diese Fragen muss eine Utopie neu beantworten

Vor diesem Prinzip eines Staates, waren wir Untertanen eines Monarchen (oder anderen Feudalherren). Die vornehmliche Aufgabe des Staates, war die Erhaltung der Macht der Monarchie. Alle Untertanen hatten zum Erhalt der Macht des Monarchen beizutragen und bekamen die Macht zu spüren, sollten sie versucht haben diese in Frage stellen.

Ich nehme an, dass dieser Sprung der Vorstellungskraft vom Untertan zum Bürger ein gewaltiger war. Die Ereignisse der Französischen Revolution sprechen dafür, dass diese Erkenntnis zu gewinnen ein aufwühlender und emotionaler Moment war der ungeheure Kräfte in den Menschen freisetzen konnte. Der Übergang vom Untertan zum Bürger stellte unsere gesamte Welt auf den Kopf.

Mit diesem Sprung in das Bürgertum begann auch der Siegeszug des Kapitalismus. Diese neue Art von Staat fand seine vornehmliche Aufgabe nicht mehr im Machterhalt seines Feudalherren, sondern in der Sicherung des Eigentums der Bürger.

Auch hier müssen wir unseren Geist weit strecken um uns vorstellen zu können welch immensen Anteil dieser Aspekt unserer Staatsangehörigkeit ausmacht, denn heute bleibt er uns meist verborgen, bzw. wir nehmen diese offensichtliche Tatsache nicht wahr.

Die Verfassungsväter der USA, insbesondere James Madison, hatten diesen zentralen Aspekt staatlicher Macht sehr wohl im Sinn.
„Government is instituted to protect property of every sort; as well that which lies in the various rights of individuals, as that which the term particularly expresses. This being the end of government, that alone is a just government, which impartially secures to every man, whatever is his own.“
Dabei hatten die Verfassungsväter auch ganz klare Vorstellungen darüber wer denn in dem neuen Gebilde das Sagen haben würde und was mit dem Begriff „Property“ vornehmlich gemeint war:
„The people who own the country ought to govern it.“ John Jay
Zumindest ist es Diskussionswürdig ob andere Arten von „property“ wie sie James Madison anspricht (individuelle freiheitliche Rechte) in seinen Augen wirklich den gleichen Schutz genießen wie die Eigentumsrechte des Landbesitzers.

Noam Chomsky (Consent without Consent, 1998) sagt dazu:

„Zudem war ihr Chefarchitekt, James Madison, ein höchst kluger politischer Kopf. In den Verfassungsdebatten warnte er: "Sollte in England das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden, dann würde das Grundeigentum in Gefahr geraten. Denn dann würde ein Agrargesetz nicht lange auf sich warten lassen", und Grundbesitz würde an die Landlosen verteilt werden. Dergleichen Unrecht müsse natürlich durch entsprechende Verfassungsbestimmungen verhindert werden: "Die immerwährenden Interessen des Landes müssen gewahrt bleiben" - womit er die Besitzrechte meinte. Für Madison war eine Regierung vor allem verantwortlich dafür, "die wohlhabende Minderheit vor der Mehrheit zu schützen." Diesem Leitsatz sind die Demokratien bis auf den heutigen Tag treu geblieben.„
Wenn wir die Gesetze eines kapitalistischen Staates heute betrachten, dann beschäftigt sich der größte Teil dieser Gesetze mit dem Schutz des Eigentums (und seiner Vermehrung). Auch die militärische Macht einer Nation dient heute vor allem diesem Zweck. Als der ehemalige deutsche Bundespräsident Köhler diese Tatsache aussprach, war die (gespielte?) Entrüstung groß.

Horst Köhler Bundespräsident AD:

"Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen."
Untersucht man genauer die Gründe hinter den Kriegen und Militäreinsätzen der bestimmenden Industrienationen, so wird man sich schwer tun andere Begründungen zu finden. Die „Verteidigung der Freiheit und der Demokratie“ zumindest fällen einem gewiss nicht als erstes ein.

Das neu gewonnene Recht auf Eigentum und seine ungehemmte Vermehrung sicherte ab dem 19. Jahrhundert einem kleinen Teil des Bürgertums den zentralen Aspekt von Ausbeutung und Bereicherung für sich in Beschlag zu nehmen; „Aus Geld mehr Geld machen“. Der Kapitalismus war geboren.

Natürlich hatte James Madison recht, wirkliche Demokratie bedingt die möglichst gerechte und effiziente Verteilung der Güter nach dem Bedarf und dem Allgemeinwohl.

David Graeber hat kürzlich die These in den Raum gestellt, dass Kommunismus nichts anderes ist als das Ideal einer gerechten und effizienten Verteilung der Güter und Dienstleistungen nach dem Bedarf und dem Allgemeinwohl. Da eine Marktwirtschaft nichts anderes ist, als ein System der Verteilung der Güter und Dienstleistungen, ist sie nichts weiter als eine bestimmte Form dieses Ideal zu erreichen.

Kapitalismus wiederum setzt marktwirtschaftliche Methoden ein und gibt vor das beste System für die effiziente Verteilung zu sein. Falls es so sein sollte wäre das eine Katastrophe, denn es versagt vollkommen in wesentlichen Bestandteilen dieser Aufgabe, ist also ein „besonders schlechter Kommunismus“. Kapitalismus verteilt Güter und Dienstleistungen extrem ungleich und diese Ungleichheit wächst stetig, dafür ist er aber darin besonders effizient.

Die Idee von Lenin und Stalin, dass eine politische Elite bestimmen könnte was Bedarf und wer Bedürftig ist, führte weder zu Gerechtigkeit noch zu Effizienz. Außerdem hatte dieses Experiment auch noch die völlige Abschaffung der Freiheitsrechte zur Folge. Auch diese Idee war also ein extrem schlechter Versuch am Kommunismus.

Leider ist heute im Sprachgebrauch der Kommunismus mit diesem völlig gescheiterten Experiment einer staatlich organisierten Umverteilung verbunden. Warum dies so ist möchte ich mit einem Wunderbaren Zitat von Philip K. Dick erklären:

“The basic tool for the manipulation of reality is the manipulation of words. If you can control the meaning of words, you can control the people who must use them.” Philip K. Dick
Die Bedeutung des Wortes Kommunismus wurde von denen in Beschlag genommen die von einer ungerechten Verteilung der Güter profitierten.

Unsere Realität ist natürlich nicht nur durch das Bestimmt was tatsächlich um uns ist. Unsere Realität wird ebenso von denen bestimmt die über unsere Realität die Entscheidungsgewalt besitzen.

Die Macht unsere Realität zu bestimmen nennt man Propaganda und ihr selbsternannter Erfinder war Edward L. Bernays, ein Neffe von Sigmund Freud. Das gleichnamigen Werk „Propaganda“ (1928) hatte schon Göbbels gelesen und die ersten Passagen dieses Textes sind:

„The conscious and intelligent manipulation of the organized habits and opinions of the masses is an important element in democratic society. Those who manipulate this unseen mechanism of society constitute an invisible government which is the true ruling power of our country. We are governed, our minds are molded, our tastes formed, our ideas suggested, largely by men we have never heard of. This is a logical result of the way in which our democratic society is organized. Vast numbers of human beings must cooperate in this manner if they are to live together as a smoothly functioning society.

Our invisible governors are, in many cases, unaware of the identity of their fellow members in the inner cabinet. They govern us by their qualities of natural leadership, their ability to supply needed ideas and by their key position in the social structure. Whatever attitude one chooses to take toward this condition, it remains a fact that in almost every act of our daily lives, whether in the sphere of politics or business, in our social conduct or our ethical thinking, we are dominated by the relatively small number of persons—a trifling fraction of our hundred and twenty million—who understand the mental processes and social patterns of the masses. It is they who pull the wires which control the public mind, who harness old social forces and contrive new ways to bind and guide the world.“
Wer die Macht über Propaganda hat bestimmt also "welche Bücher wir in unser Gefängnis gereicht bekommen". In einem kapitalistischen System, kann derjenige über diese Macht verfügen, der in der Lage ist ein milliardenschweres PR-Budget aufzubringen (PR= ein anderer Name für Propaganda). Die Dienstleister für die Umsetzung der Manipulation sind bekannt.



Um eine Utopie zu Entwickeln muss man sich also nicht nur über das Erheben was man bisher für möglich hielt sondern eine neue Sprache für diese neuen Möglichkeiten finden die nicht die Assoziationen hervorruft die in unserem Köpfen festgeschrieben wurden. Sei es durch die Art wie wir unser Denken selbst beschränken oder durch die Macht der Propaganda.

Eine Utopie muss das bisher gewesene zu Gänze in Frage Stellen und darf nicht die Fehler der Vergangenheit in eine neue Form gießen

Manifest gegen Politik (David Graeber)

Der Begriff der "Politik setzt einen Staat oder einen Regierungsapparat vorraus, der seinen Willen anderen Aufzwängt. "Politik" ist die Negation der Staatskunst, Politik wird per Definitionem von einer Art Elite zusammengebastelt, die glaubt, sie wisse besser als andere, wir ihre Angelegenheiten zu erledigen seien. Wenn man an politischen Debatten teilnimmt kann man höchstens Schadensbegrenzung erreichen, da bereits die blose Prämisse dem Gedanken abträglich ist, Menschen könnten ihre Angelegenheiten selber regeln."


Bloggerkollege Feynsinn hat sich gestern in einer Skizze einer Utopie versucht. Der Versuch ist Mutig und Begrüßenswert.

Leider aber bewegt er sich in den Kreisen seines geistigen Gefängnisses und wünscht sich neue Bücher in seiner alten Zelle. In seinem Modell wird weder der Staat noch seine Macht in Frage gestellt. Der Bewohner seines Staates teilt diese Zelle. Wie denn die Verteilung der Güter und Dienstleistungen nach Bedarf und Gemeinwohl geschehen soll bleibt offen.

Offenbar bestimmt auch in diesem Modell eine „Politik“ diesen Staat. Es wird einige geben (eine Elite) die sich herausnehmen über das Schicksal des Einzelnen zu bestimmen. Die Herrschaft der Wenigen über die Vielen bleibt. Egal wie demokratisch diese Eliten bestimmt werden, aus Ihnen wird sich eine neu korrupte Schicht von Herrschenden bilden.

Sein Modell sieht in den Bürgern implizit eine Gefahr. Freiheit und Eigentum müssen beschränkt werden da wir als Menschen nicht Verantwortungsvoll damit umgehen können.

Die gescheiterten Modelle haben diese Eigenschaften mit Feynsinns Modell gemein. Das politische Individuum ist in diesen Modellen ein unmündiges Kind und muss so behandelt werden. Diese Auffassung teilt er mit den Apologeten des Kapitalismus und den Betonköpfen des Stalinismus.

Menschen werden Verantwortlich handeln wenn sie die Verantwortung haben.
Sie werden aufhören wie Kinder zu sein wenn wir ihnen das Recht zugestehen erwachsen zu werden.


„Wir sind überzeugt, dass Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit, und Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität bedeutet“ (Michail Bakunin)
Diese Aussage Bakunins kann man wohl als Bewiesen ansehen.

Ein utopisches Modell, das ich anerkenne, muss nicht nur die Möglichkeit beinhalten zu Entscheiden „Wie“ wir regiert werden wollen, sondern auch „Ob“ wir regiert werden wollen!

Es muss beinhalten wie wir das archaische System des Nationalstaates hinter uns lassen können.
Es muss uns eine Welt ohne Grenzen und Ausgrenzung ermöglichen.
Es muss für kommende Generationen eine lebenswertere Welt garantieren als wir sie heute haben.
Es muss Freiheit und Kommunismus in gleicher Weise umsetzen.
Es muss das Prinzip der Herrschaft von Menschen über Menschen überwinden.

Sonst wird sich in Wirklichkeit nichts geändert haben.

Ein Buch, das von der Welt ausserhalb unserer Zelle erzählt und mit jedem Satz neue Fenster nach draussen öffnet ist "The Memory Bank" von Keith Hart:

Er beschreibt nicht nur sehr klarsichtig unsere Welt sondern entwirft eine inspirierende Utopie.

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