Montag, 21. Februar 2011

Gerechtigkeit und Gesellschaftsordnung

"Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk liegt aber vor ihnen wie Dünger auf dem Acker." Georg Büchner
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Ich denke es ist wenig provokativ wenn ich sage: Unsere Welt ist ungerecht. Die erste Welt beutet die dritte aus, die Bürger der einen Nation leben auf Kosten der anderen, innerhalb aller Gesellschaften geniessen einige Reiche den Luxus ohne Leistung während die Armen dafür Überschüsse erwirtschaften von denen sie selbst nicht profitieren.

Auch wenn ich denke, dass die meisten Menschen dieser Aussage zustimmen würden, scheint sich an diesem Grundzustand, seit dem wir über die Jäger und Sammler Kultur hinausgewachsen sind, wenig verändert zu haben.

Dabei haben wir schon so viel erreicht:

Gleichberechtigung, unabhängige Gerichte, allgemeines Wahlrecht, Völkerrecht, Chancengerechtigkeit ...

Wie ging das und warum schaffen wir den letzten Schritt nicht?

Jeder Mensch ist durch seine Sozialisierung mit einem ihm eigenen Gerechtigkeitsempfinden ausgestattet das der Motor all dieser Veränderungen ist.

Dennoch, bis heute ist kein Ende des politischen Bestrebens nach Gerechtigkeit abzusehen obwohl offenbar die Mehrheit der Menschen sie wollen.

Grund genug das Thema Gerechtigkeit genau zu betrachten und zu überlegen warum wir dennoch keine für alle gerechte Gesellschaft geschaffen haben.

Der Begriff Gerechtigkeitsempfinden sagt schon aus, dass es sich bei Gerechtigkeit um einen subjektiven Begriff handelt. Möglicherweise gibt es so viele Formen gefühlter Gerechtigkeit wie es Menschen gibt.

Dem gegenüber versammeln sich Menschen mit ähnlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit in Organisationen.

Womöglich beschäftigten sich als erstes Religionen mit der Gerechtigkeit. Jede Religion scheint wesentliche Aspekte von Gerechtigkeit in ihren Regeln festzusetzen.

Dennoch scheitern alle großen Religionen darin Gerecht zu sein. Im Gegenteil, laut Marvin Harris haben große Weltreligionen immer folgende Aspekte gemein:

  • Sie legitimieren den Herrschaftsanspruch der Herrschenden Klasse.
  • Sie versuchen die Ungerechtigkeit für die Mitglieder der unteren Klassen als von Gott (den Göttern/ dem Karma/ ...) bestimmt darzustellen.
  • Als Ausgleich wird eine Erlösung in einem nächsten Leben, einem Paradies,... versprochen wenn man die Ungerechtigkeit ohne Widerspruch erträgt.

"The demystification of the world religions begins with this simple fact: Confucianism, Taoism, Buddhism, Hinduism, Christianity, and Islam prospered because the ruling elites who invented or co-opted them benefited materially from them. By spiritualizing the plight of the poor, these world religions unburdened the ruling class of the obligations of providing material remedies for poverty." Marvin Harris

 
Letztendlich wirken Religionen also, positiv gesprochen, als Stabilisator der den Umsturz erfolgreicher Kulturen verhindern. Sie sind damit jedoch ein wichtiger Grund warum die Entwicklung einer gerechten Gesellschaft immer noch auf sich warten lassen.

Trotzdem gab und gibt es immer diejenigen die sich mit der Ungerechtigkeit nicht abfinden wollen und die sich ihr entgegenstellen. Revolutionen und Reformationen waren die Folge. Immer mehr Aspekte von Gerechtigkeit fanden Einzug in die Gesellschaft. Dass dabei der Einfluss der Religion zurückgedrängt wurde ist nicht verwunderlich.

Inzwischen hat sich in unserem Land eine mehr oder weniger säkulare Gesellschaft gebildet. Bekannterweise leben wir in einer parlamentarischen Demokratie in einem geschichteten kapitalistischen Wirtschaftssystem.

Menschen die sich aus einem Gerechtigkeitsempfinden heraus politisch engagieren, tun dies in einer politischen Gruppierung oder Partei. Jede Partei (oder Organisation) hebt dabei einen bestimmten Aspekt der Gerechtigkeit hervor bzw. priorisiert bestimmte Aspekte von Gerechtigkeit unterschiedlich.

Diese Aspekte sind Beispielsweise: Generationengerechtigkeit,
Umweltgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Schützende Gerechtigkeit, Juristische Gerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Gleichberechtigung, Kontributive Gerechtigkeit...

Aspekte von Gerechtigkeit liegen also im politischen Widerstreit.


Eine Partei die Leistungsgerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat wird Maßnahmen zur Umverteilung anders beurteilen als eine Partei dis sich der sozialen Gerechtigkeit verschrieben hat.

Das Fehlen einer politischen Gruppierung der Umweltgerechtigkeit führte zur Gründung der Grünen Partei.

Eine Parlamentarische Demokratie wird also im besten Fall einen Kompromiss zwischen verschiedenen Formen des Gerechtigkeitsempfindens finden können.

Eine geschichtete kapitalistische Gesellschaft wie die unsere versucht nicht sozial gerecht zu sein. Soziale Ungerechtigkeit ist Teil der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und wird legitimiert durch verschiedenste Mechanismen.

Wie oben erwähnt spielt auch in unserer Gesellschaft die religiöse Legitimation eine wichtige Rolle. Max Weber beschreibt in "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" wie der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit aus dem Protestantismus zu unserem modernen geschichteten Kapitalismus führen konnte.

Interessant empfinde ich unter diesem Aspekt wie die auf dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit basierende sozialistische Arbeiterbewegung der Religion ebenso entgegen tritt wie der sozialen Ausbeutung, ja sie (ursprünglich) sogar gleichsetzt.

Dieser Konflikt (Leistungsgerechtigkeit gg. soziale Gerechtigkeit) bestimmte weitestgehend unsere Politik seit dem Ende des 19Jh.

Die wesentliche Errungenschaft im 20 Jh ist jedoch der Aspekt der Chancengerechtigkeit. Sie findet Ausdruck in der vertikalen Mobilität innerhalb des geschichteten Systems und ist die Legitimation die uns die inherente Ungerechtigkeit sozialer Schichtung erträglich macht. Sie ist eng mit dem Gedanken der Leistungsgerechtigkeit verknüpft. Ungerechtigkeit lässt sich also seit dem Begründen. "Wer Arm ist ist selbst daran Schuld."

Angeblich ist jeder in der Lage, unabhängig von der Schicht seiner Eltern, innerhalb eines Lebens in die vom Überschuss profitierenden Schichten aufzusteigen. Angeblich deshalb, weil viele wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Austausch fast nicht stattfindet und die Schichten sehr stabil sind. Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren sogar verstärkt. Das wir einer Illusion der Chancengleichheit unterliegen liegt an einem neuen Mittel der Legitimation der Ungerechtigkeit, den Medien.

Die Medien sind offenbar in der Lage eine bestimmte Art von Gerechtigkeit vorzutäuschen. In unserem Fall schaffen Sie es den Anschein von vertikaler Mobilität aufrecht zu erhalten obwohl sie in Wahrheit kaum stattfindet. Letztendlich sind die Medien wiederum abhängig vom wahren Hindernis für eine gerechte Gesellschaft.

Diejenigen die von Ungerechtigkeit profitieren sind immer wenige, aber Sie bestimmen proportional in weit höherem Maße die Entwicklung einer Gesellschaft, als diejenigen die die Überschüsse erwirtschaften. Sie sind es, die früher den Aufstieg einer Religion zu einer Weltreligion zuliessen oder Verhinderten, oder heute Einfluss auf Parteien und Parlamentarier nehmen und die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten beeinflussen.

Hierdurch besteht im Konflikt zwischen (angeblicher) Leistungsgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit ein Ungleichgewicht, dass in keiner modernen Gesellschaft bisher aufgelöst wurde und das wiederum viele als "Ungerecht" empfinden.

Ich gehe hier vor allem auf die kapitalistische Gesellschaft ein. Das Wenige an der Ungerechtigkeit profitieren, gilt jedoch auch für sozialistische Systeme (Stalinistische, die nie sozialistisch waren) , in denen die Leistungsgerechtigkeit und andere Aspekte von Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben (neben der Freiheit). Davon profitierten Parteieliten, die die öffentliche Meinung kontrollieren oder unterdrücken.

Noch viel mehr gilt das natürlich für andere geschichtete Gesellschaftsformen (Diktaturen, Oligarchien usw.) in denen die Eliten ungehemmt die Profite abschöpfen und die so gut wie alle Aspekte der Gerechtigkeit misachten.

Kann aber ein subjektives Empfinden überhaupt ein guter Ratgeber für die Gestaltung einer Gesellschaft sein? Gerechtigkeit in all ihren Ausprägungen eignet sich dazu die Menschen zu mobilisieren. aber kann sie auch Grundlage politischer Entscheidungen sein?

Da das Gerechtigkeitsempfinden des Menschen durch Religion, Ideologie und Manipulation massiv beeinflusst sein kann und jeglicher wissenschaftlicher Basis entbehrt, muss politisches Handeln sich an anderen Maßstäben ausrichten.

Zudem ist der Widerstreit zwischen sozialer Gerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit anscheinend nicht aufzulösen. Unsere Politik ergeht sich im Streit der Ideologien deren Ausgangspunkt ein undefinierbares Gerechtigkeitsgefühl ist.

In der Parlamentarischen Demokratie hat eine Generationengerechtigkeit nur eine schwache Lobby. kontributive Gerechtigkeit (Das Recht auf Mitbestimmung) bleibt in allen Machtstrukturen gerne auf der Strecke.

Eine Gerechtigkeit zwischen Gesellschaften hat sich ebenfalls noch nie entwickeln können.
"Die moralischen Prinzipien internationaler Politik haben sich seit Dschinghis Khan nicht weiterentwickelt" (Noam Chomsky).


Das zwanzigste Jh. war (in Europa) ein Zeitalter des Überflusses. Wir konnten Ungerechtigkeit zulassen ohne die (eigene) Gesellschaft zu gefährden, da wir dank der Ausbeutung nicht nachhaltiger Ressourcen (und anderer Nationen) Überschüsse erwirtschaften konnten wie es sie noch nie zuvor gab.

Unter diesen Umständen war selbst bei ungerechter Beteiligung Unterprivilegierter eine stete Verbesserung des Wohlstands aller Schichten möglich, was einen scheinbaren Fortschritt hin zu mehr Gerechtigkeit vermittelte.

Das Ende des Wachstums wird aber einen Umbruch der Gesellschaft bedeuten, der möglicherweise in dieser Größenordnung ohne Beispiel ist.

Wenn wir diesem als funktionierende Gesellschaft begegnen wollen ist Gerechtigkeit meiner Meinung nach nicht mehr der richtige Motor des Politischen Ausgleichs.

Gerechtigkeitsempfinden ist eine Emotion die zu Ideologie und Religion aber auch zu Fanatismus und Radikalismus führen kann. Das Gegenteil von Religion, Ideologie, Fanatismus und Radikalismus ist die wissenschaftliche Vernunft.

Die Grundlage einer politischen Entscheidung muss die Vernunft sein, nicht die Emotion. Wenn man zwischen zwei Formen von Gerechtigkeit bei einer Entscheidung abwägen muss, kann nur die Wissenschaft die richtigen Argumente liefern.

Maßstab dieser Entscheidung muss das Gemeinwohl einer Gesellschaft sein. Es kann nicht zu Gunsten des Gemeinwohls sein wenn wenige an den Überschüssen profitieren. Es kann genauso wenig dem Gemeinwohl dienen wenn auf Leistung kein gerechter Lohn folgt. Eine nicht nachhaltige Politik ist nicht im Interesse zukünftiger Generationen.

Die Parteien die sich an ihren Ideologien festhalten und die Starrheit der aus ihnen geformten Parlamente verlieren ihre Legitimation, weil sie am Gemeinwohl vorbei regieren. Sie bedienen lediglich Emotionen die sie selbst mit Polemik und Populismus geschaffen haben.

Die wahren Fakten politischer Entscheidungen, die Profiteure und Kosten, all das wird den Wählern vorenthalten und nur unter Druck manchmal veröffentlicht.

Es wird scheinbar der Gerechtigkeit genüge getan, während in Wirklichkeit die Interessen einzelner bedient werden. Irgendwie gelingt es am Ende immer wieder, dem Gemeinwohl schädliche Entscheidungen, durch das Streben nach mehr Gerechtigkeit zu begründen.

Unser Gerechtigkeitsempfinden ist zum Spielball von PR und Propaganda geworden. Es wird aufgehängt an in der Presse hochgespielten Einzelfällen wie Florida Rolf oder Klaus Zumwinkel die die Volksseele hoch kochen lassen wenn das gerade gewünscht wird.

Dadurch wurde aus dem ehemaligen Antrieb des sozialen Fortschritts ein Mittel der Reaktion. Wir sind in stumme Lethargie verfallen, da doch die Gerechtigkeit scheinbar immer wieder siegt.

Das streben nach Gerechtigkeit als Motor unserer sozialen Entwicklung hat sich damit überlebt.

Wir müssen uns davon emanzipieren und an ihrer Stelle die politische Vernunft einfordern.

Anhang:
Buchtipp:
"Das Wissen vom Geld - Auf dem Weg zum Finanzbürgertum" von Martin Schürz (Sozialwissenschaftler, Reichtumsforscher):
„In der öffentlichen Debatte konkurrieren strukturelle Erklärungen menschlichen Handelns mit individualisierten Zuschreibungen von Verantwortung.

Soziale Ungleichheit kann verstanden werden als Resultat eines individuell zu verantwortenden Verhaltens, so dass Reichtum bzw. Armut den Betroffenen verdientermaßen zukommt.
Oder die Position in der sozialen Hierarchie wird verstanden als Effekt von strukturellen Ursachen, wie etwa ungleicher Startbedingungen, unter denen Individuen am Markt aufeinander treffen. Von der Antwort auf diese Fragen hängt ab, wie die Wirtschaftspolitik auf soziale Ungleichheit reagiert."

Auf der Seite der armutskonferenz.at wird man besonders fündig wenn man nach dem Author "Martin Schürz" sucht.

Studien/Artikel zu sozialer Mobilität:

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